Über die Schwierigkeiten, als autistische Person Selbstfürsorge zu praktizieren

Eine Person macht Yoga. Sie kniet auf dem Boden und streckt ihren Körper nach hinten über, so das sie mit ihren Händen den Boden berührt.
Ist das noch Entspannung oder verbiegt man sich da schon? Self-Care muss ganz individuell betrachtet werden. Foto: wee lee | unsplash.com
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Mal einen Gang runterschalten, entspannen, Self-Care und Achtsamkeit. Sollte doch nicht schwer fallen, oder? Olivia Hotz beschreibt, warum das für sie als Autistin nicht so leicht ist, was ihr wirklich hilft und warum der Austausch unter Betroffenen wichtig ist.

Die Geschichte beginnt, so wie viele Geschichten im Leben behinderter Menschen, in einem Sprechstundenzimmer. Bei einer Routineuntersuchung wurde festgestellt, dass bei mir ein erhöhter Ruhepuls vorliegt. So weit, so unspektakulär. Ein erhöhter Ruhepuls allein muss nicht zwangsläufig als Anzeichen zur Sorge gewertet werden, auch wenn er – im Zusammenspiel mit weiteren Risikofaktoren – zum Beispiel Herzinfarkte begünstigen kann. 

Als ich begann von weiteren Stressindikatoren in meinem Alltag zu erzählen, nahm das Gespräch eine Wendung. Denn nun wurde der hohe Ruhepuls Teil eines größeren Ganzen, sozusagen Mitindikator meines stressigen Alltags. Ich wurde also darauf hingewiesen, dass es wohl angebracht wäre, mich einmal mit Achtsamkeitstechniken auseinanderzusetzen. Anders gesagt: ich solle mich einfach mal entspannen. Äußerlich ließ ich mir in dem Moment nichts anmerken, innerlich musste ich müde lächeln. 

Vor wenigen Jahren, also bereits im Erwachsenenalter, erhielt ich die Diagnose Autismus. Autismus ist eine Form von Neurodivergenz und kennzeichnet sich in erster Linie durch unterschiedlich zur gesellschaftlichen Norm entwickeltes Gehirn. Lesende mögen sich nun fragen, was das mit Achtsamkeit zu tun haben soll. Kurzgesagt: Eine ganze Menge.

Die Themen Achtsamkeit und Selbstfürsorge beschäftigen mich schon längere Zeit, ich hatte den gut gemeinten Ratschlag an diesem Tag also nicht zum ersten Mal gehört. Es gibt seit Jahren verschiedene Anzeichen, die mir in dieser Richtung Sorge bereiten und meinem Körper signalisieren, dass ich lernen sollte mich besser um mich selbst zu kümmern. Ich höre die Signale meines Körpers. Was ich nicht verstehe ist, wie es funktionieren soll, „einfach einmal einen Gang runterzuschalten“.

Hyperfokus und Selbstoptimierung

Als ein zentrales Anzeichen für Autismus gilt unter anderem die Über- bzw. Unterempfindlichkeit bei unterschiedlichen sensorischen Reizen. Permanente Reizüberflutung durch eine autismusbedingte Reizfilterschwäche und die konstante Fokussierung darauf, in einer, für neurotypische Menschen ausgelegten, Welt möglichst nicht negativ aufzufallen, sorgen für ein dauerhaft hohes Stressniveau. Es gibt keine Momente, in denen das Nervensystem ruhig und entspannt vor sich hin existiert.

Ebenfalls typisch für autistische Menschen ist die Haltung, bis zum Kern einer Sache vordringen zu wollen, um sie möglichst umfassend zu begreifen. Nach meinem „Erstkontakt“ mit dem Themenkomplex Achtsamkeit ging ich also zunächst so vor, wie ich es immer mache, wenn ich beginne mich intensiv für etwas zu interessieren. Ich versuchte jahrelang durch unterschiedlichste Kursformate einen Einblick in verschiedene Techniken der Achtsamkeit zu bekommen, las Meditations-Bücher und hörte unermüdlich Selfcare-Podcasts, um einen umfassenden Einblick in das Thema zu bekommen. Entspannter werde ich dabei nicht, eher bin ich nun noch gestresster als vorher.

Ich bin ernüchtert. Da ich durch permanente Ablehnungserfahrungen in meiner Kindheit und Jugend die Erfahrung gemacht habe, dass ich nicht genüge, lautet meine Schlussfolgerung nicht, dass ich vielleicht weiterkomme, wenn ich einen anderen Zugang suche. Stattdessen brennt sich in meinem Gedächtnis ein: Ich habe mich nur noch nicht genug angestrengt, es noch nicht genug gewollt und mit zu wenig Ausdauer versucht.

Beim Versuch alles zu lernen und möglichst viele Informationen sammeln entging mir, was die Leistungsgesellschaft, in der wir leben uns alle am liebsten vergessen lassen will: Achtsamkeit funktioniert nicht als ein weiterer Punkt auf einer sowieso schon viel zu langen To-do-Liste. Mit den Jahren beschleicht mich langsam, aber sicher die Erkenntnis: Sich „einfach einmal zu entspannen“ oder sich „einfach nicht so viel Stress zu machen“ sind für autistische Menschen nichts weiteres als unangebrachte Ratschläge, wenn sie die Besonderheiten in der Funktionsweise unserer Gehirne nicht mitberücksichtigen. 

Autismusspezifische Probleme beim Erlernen von Achtsamkeitstechniken

Eine der vielen Techniken, mit der ich auf meiner Achtsamkeitsreise in Kontakt komme, ist eine Atempraxis, die von Ilse Middendorf geprägt wurde und sich mit dem natürlichen Fluss des Atems beschäftigt. Ich erlebe diese Form körperbasierter Achtsamkeitsarbeit grundsätzlich als hilfreich. Was ich jedoch feststelle ist, dass ich mich – vermutlich aufgrund meiner durch die Neurodivergenz bedingten Konzentrationsschwierigkeiten – nicht ohne Anleitung selbstständig mit Körperübungen beschäftigen kann. Daneben ist auch die Störung exekutive Funktionen wie Planung und Organisation ein zentrales Element, das mir den Aufbau einer Achtsamkeitsroutine erschwert. Es gelingt mir nicht, regelmäßig Zeiten und Orte für Ruhe und Entspannung einzurichten. Hier geht es mir vermutlich wie vielen Menschen: Es ist immer etwas Anderes und scheinbar so viel Wichtigeres zu tun in unserer schnelllebigen Welt, als sich Raum für die eigene Entspannung zu schaffen, ohne dabei die eigene Produktivität steigern zu wollen.

Hinzu kommt, dass spezielle Bewältigungsstrategien neurodivergenter Menschen, wie beispielsweise unterschiedliche Varianten von Stimming (darunter fallen etwa das Beschäftigen der Hände mit einem Fidget Toy oder bestimmte vokale Tics wie wiederholtes Schnalzen mit der Zunge), bei autistischen Menschen nicht gezielt gefördert, sondern abtrainiert werden. Stimming – allein die Tatsache, dass es kein passendes deutsches Wort gibt, zeigt auf, dass viel zu wenig darüber gesprochen wird – stellt aber eine wichtige Möglichkeit zur Stressregulation autistischer Menschen dar. Ich erinnere mich beispielsweise daran, dass ich als Kind in stressigen Situationen auf meinen Haaren herumgekaut habe, um mich zu beruhigen. Statt sich tiefgreifender mit den Problemen zu beschäftigen, auf die das Haare kauen als Bewältigungsstrategie ein Hinweis war, wurden mir diese unter anderem als Reaktion auf mein unerwünschtes Verhalten abgeschnitten. Uns wird seit unserer Kindheit antrainiert, uns anzupassen und von anderen als störend bewertetes Verhalten zu unterlassen. 

Zudem erlernen die meisten autistischen Menschen durch den hohen Anpassungsdruck im Lauf ihres Lebens Strategien, um zu maskieren und neurodivergente Verhaltensweisen und Eigenschaften zu unterdrücken. Das kann dazu führen, dass viele von uns sich von ihren authentischen Charaktereigenschaften so weit entfernen, dass sie mit der Zeit selbst das Gefühl dafür verlieren, was ihnen guttut und was in einer Situation schädlich ist oder Energie raubt. Gleichzeitig kostet das konstante Aufrechterhalten einer Maske permanent Energie, die dann zur Stressregulation nicht mehr zur Verfügung steht. Die Maskierungstaktik mag dazu führen, dass neurodivergente Menschen im Alltag weniger Stigmatisierung und Verurteilung von außen ausgesetzt sind, potenziert aber langfristig unser Stresserleben.

Der boomende Selfcare-Trend in Kombination mit meinem Hang zur intensiven und perfektionistischen Recherche haben entscheidend dazu beigetragen, dass Selbstfürsorge für mich zunächst das genaue Gegenteil von dem getan hat, was sie verspricht. Der Druck, möglichst alles über Achtsamkeit zu lernen und mein Irrglaube, dass es ausreicht genug zu wissen, um quasi automatisch entspannt zu sein, stressen mich. Stress wiederum begünstigt die Verschlimmerung meiner körperlichen Symptome wie z.B. meinen zu hohen Ruhepuls.

Ich finde Entspannung durch den Austausch mit anderen neurodivergenten Menschen

Was mir heute glücklicherweise klar ist: Auch die Beschäftigung mit, die Identifikation von und die Integrität meiner autistischen Merkmale in meine individuelle Persönlichkeit stellen bereits eine Form von Achtsamkeit dar. Diese Erkenntnis liegt in keiner „klassischen“ Achtsamkeitspraxis begründet, sondern ist vor allem das Produkt eines intensiven Austauschs mit anderen Autist*innen und neurodivergenten Menschen, den ich als ein Privileg und einen absoluten Glücksfall empfinde. Zu wissen, dass ich beim Erlernen von Achtsamkeit mit speziellen Problemen konfrontiert bin und, dass ich damit nicht allein bin, entspannt mich. Von anderen autistischen Menschen zu lernen, wie ich mich selbst in Stresssituationen regulieren kann, entspannt mich ebenfalls. Heute weiß ich, dass es Gewichtsdecken gibt und dass ich, wenn ich unter einer liege, meinen Puls deutlich besser regulieren kann.

Unterschiedliche Instagram Kanäle wie @christine.xls, @darshanawhynot oder @polyeszterbindung beschäftigen sich regelmäßig mit der Aufklärung über die Verschränkung von Ableismus im Gesundheitssystem und Neurodivergenz. Sie tragen mit ihrer Aufklärungsarbeit dazu bei, dass ich mir heute weniger vorkomme als sei ich selbst das größte Problem und besser erkennen kann, dass es systematische Ungerechtigkeiten in unserem ableistisch geprägten Gesundheitssystem gibt. Dass unser psychisches Wohlbefinden auf Glück und dem Durchhaltevermögen basiert, passende Angebote zu finden und zu beantragen, ist eine schmerzhafte Erkenntnis und absolut unzureichend.

Ein systemisches Problem bedarf einer systemischen Lösung, oder: Plädoyer für eine Achtsamkeitsarbeit, die neurodivergente Eigenschaften berücksichtigt

Menschen können nur Selbstfürsorge lernen, wenn sie sich verstanden, respektiert und repräsentiert fühlen. Wenn sie ihrem Gegenüber nicht erst ausführlich erklären müssen, was neurodivergente Eigenschaften sind und wie sich diese auf ihr individuelles Stresserleben auswirken. Wenn sie radikal authentisch sein können, ohne sich verstellen zu müssen und mit ihrer autistisch geprägten Persönlichkeit verstanden und ernst genommen werden. 

Oftmals ist die Suche nach mehr Achtsamkeit und Entspannung selbst mit großem Stress verbunden. Sei es etwa durch die Tendenz zu Hyperfixierung wie ich sie oben im Text beschreibe oder beispielsweise im Antragsverfahren auf Hilfeleistungen, die vielen autistischen Menschen verwehrt bleiben, die scheinbar „zu gut“ in der Gesellschaft zurechtkommen und denen ihr Hilfsbedarf oftmals abgesprochen wird. Techniken der Selbstfürsorge zu erlernen ist aber für uns alle essenziell, um gut durchs Leben zu kommen, ohne dabei Schäden zu nehmen wie permanente Überforderungszustände oder Burnouts. Für mich ist es wichtig, im Alltag runterzukommen und meinem Körper Ruhephasen zu gönnen. Immerhin verarbeitet er den ganzen Tag anstrengende Sinnesreize für mich.

Eine langfristige und wirksame Achtsamkeitspraxis kann meiner Erfahrung nach ausschließlich unter liebevoller Berücksichtigung neurodivergenter Persönlichkeitsmerkmale erlernt und praktiziert werden. Autismusspezifische Formen von Achtsamkeitsarbeit müssen dabei sowohl angeboten werden als auch für Hilfesuchende zugänglich sein. Im besten Fall erarbeiten Therapeut*innen, die selbst neurodivergent sind, mit neurodivergenten Menschen die für sie passenden Entspannungsroutinen. Dies folgt nicht nur dem Motto der Behindertenbewegung „Nichts über uns ohne uns“, sondern ist meiner Ansicht nach die einzige Chance – wie die im Konzept der Achtsamkeit innewohnende Selbstfürsorge nahelegt – ehrlich für sich selbst zu sorgen.

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