Live vom PULS Open Air Festival – Transkript

Lesezeit ca. 28 Minuten

Die Neue Norm: Eine Sehbehinderung, ein Rollstuhl, eine chronische Erkrankung. Oder: drei Journalist*innen. Jonas Karpa, Raul Krauthausen und Karina Sturm sprechen über Behinderung, Inklusion und Gesellschaft.

Folge 52: „Live vom PULS Open Air Festival“

Jonas:
Ja, herzlich Willkommen zu Die Neue Norm, dem Podcast – das erste Mal live hier beim PULS Open-Air-Festival 2024. Und heute geht es um das Thema Musik, wie eingangs ja schon gesagt und genau für alle die, die uns vielleicht auch das erste Mal heute hören oder auch mitbekommen: Drei JournalistInnen, heißt es im Vorspann. Wir sind gerade einmal im Monat in der ARD Audiothek zu hören. Eine Sehbehinderung, heißt es da, das bin ich, Jonas Karpa, Hallo, dann haben wir eine Person mit einer chronischen Erkrankung, Karina Sturm und Raúl Krauthausen, im Rollstuhl sitzend, alles sitzt heute.

Applaus

Und wenn wir uns dem Thema Musik widmen, ist mir persönlich aufgefallen, auch gerade bei der Recherche, wir haben uns viel damit auseinandergesetzt, und der eine oder andere hört ja auch von uns privat gerne Musik, dass eigentlich in einigen Songtexten immer mal wieder, vielleicht auch unabsichtlich irgendein Bezug besteht zum Thema Behinderung. Ich musste spontan bei dir, Karina, zum Beispiel denken an Anastasia: Sick and tired – wäre das ein Lied, wo du quasi noch mal besonders hinhören würdest, weil du sagst, hey, die singt dort über mich?

Karina:
Es fasst mein Leben eigentlich ziemlich gut zusammen. Ich fühle mich die ganze Zeit irgendwie krank und extrem müde. Insofern passt der Text so richtig gut zu mir. Aber ich identifiziere mich als Person mit chronischer Krankheit. Wie ist das denn bei dir, Raúl?

Raúl:
Also ich achte da ehrlich gar nicht so drauf. Vor allem, ich habe manchmal das Gefühl, ich bin der Einzige auf diesem Planeten. Aber ich höre bei englischen Songs eigentlich die Texte nicht; ich höre immer nur die Melodie und sing das dann so nach. Aber ich weiß gar nicht, was ich da singe, obwohl ich Englisch kann. Und erst wenn ich die Lyrics gelesen habe, weiß ich – OH! Das ist dann doch vielleicht problematisch oder sexistisch. Bei deutschen Texten so… keine Ahnung… Helene Fischer: Atemlos oder so, könnte man auch sagen, Okay, was ist eigentlich mit Menschen, die künstlich beatmet werden? Aber ich lasse auch ganz gern mal die Kirche im Dorf.

Jonas:
Ja, mir ist gestern Abend noch eingefallen, dadurch, dass ich ja quasi auch zu der großen Gruppe der Menschen gehöre, die ihre Behinderung im Lauf des Lebens erworben haben. Also von den knapp 8-10 Millionen Menschen mit Behinderung, die es gibt, haben ja nur 3,3 Prozent ihre Behinderung seit der Geburt. Mir fiel spontan das Lied von Wir sind Helden ein: Von hier an blind. Ich weiß nicht weiter. Ich weiß nicht, wo wir sind. 

Raúl:
Da kannst du ja gleich relaten.

Jonas:
Ja, ich hatte so kurz, als ich dann die Verknüpfung hinbekommen habe, gedacht, die singt ja über mich – das ist gut. Ich bin nicht blind, habe eine Sehbehinderung. Aber trotz alledem dachte ich so, wie generell die ganze Thematik von Fähigkeiten oder vielleicht eben auch Behinderung oder das Nichtfähigsein dann auf einmal in Songtexten aufpoppt, ohne das ist vielleicht auch so gemeint ist – fand ich dann schon sehr erstaunlich.

Raúl:
Ich würde da vielleicht sogar noch unterscheiden wollen zwischen als Metapher benutzt oder als Beleidigung benutzt. Wenn jetzt im Hip-Hop oder Rap ganz gerne das Spast-Wort gebraucht wird, um jemanden zu beleidigen oder zu dissen, ist das was anderes, als zu sagen, Ja, ich bin von hieran blind und weiß nicht weiter. Das meint er ja eher so orientierungslos sein. Da könnte man gerne mal unterscheiden.

Jonas:
Naja, aber Stairway to heaven … ist jetzt vielleicht… kommen Menschen, die im Rollstuhl unterwegs sind, nicht in den Himmel.

Raúl:
Elevator to heaven… könnte man dann machen. Oder Stairramp.

Jonas:
Ich hatte auch gedacht, als wir darüber sprachen, welche Musik wir privat hören… Magst du die Elevator Boys?

Raúl:
Also ich glaube, die Elevator Boys ist die einzige Band, die nicht singen muss, um trotzdem berühmt zu sein – und seit Neuestem singen Sie auch, aber das kam erst danach. Ich habe ja einen Podcast, der heißt „Im Aufzug“. Wir sind immer noch dran, die Elevator Boys in den Podcast einzuladen. Aber die haben sich bisher noch nicht zurückgemeldet. Vielleicht hört das jetzt ja jemand zufällig…

Jonas:
Aber ich meine, du bist ja auch berühmt und singst auch nicht. Wobei – Spoiler – wir reden auch gleich über das eine Lied oder das, was du auch schon Mal aufgenommen hast. 

Raúl:
Peinlich…

Jonas:
Aber Singen gehört jetzt nicht zu deinen Favourites oder Hobbys?

Raúl:
Man soll ja nicht sagen, dass man nicht singen kann, weil jeder kann singen und bla bla. Ja, aber ich kann nicht gut singen. Oder wie es so schön heißt: Schlecht singen kann ich gut, nur gut singen kann ich schlecht.

Jonas:
Karina, sind beim Hören deiner Spotify-Top-Songs Lieder aufgetaucht, wo du sagen würdest: Das ist ja interessant! Da geht es ja um Behinderung! Oder eben auch nicht.

Karina:
Also ich finde mich ja manchmal eher in einem lustigen Kontext in Liedern wieder. Ich mag zum Beispiel Wrecking Ball sehr gern, weil ich mich gern auch mal wie so eine Abrissbirne fühle. Behinderungsbedingt bin ich sehr tollpatschig und zum Beispiel auf Raúls Hochzeit war das erste, was passiert ist… wunderschön gedeckter Tisch, alles in Weiß…und ich habe erst mal so eine komplette Flasche Rotwein über den Tisch verteilt, weil ich irgendwie wild gestikulierend dasaß – das ist eher so meine Assoziation manchmal.

Jonas:
Bei Wrecking Ball muss ich immer an das Musikvideo denken….

Karina:
Ja, das ist ungefähr so, wie ich da reinkomme…

Jonas:
Okay!

Raúl:
Aber mit Wrecking Ball kann ich auch relaten. Ich habe ja Glasknochen. Kinder sagen ja, ich hätte einen Ball gefrühstückt, weil mein Bauch so rund ist… also auch ball. Aber auf mir reitet keine halbnackte Frau.

Jonas:
Aber, Karina, über deine chronische Erkrankung an sich, die sehr speziell ist, gibt es kein Lied oder keine…sage ich mal….They see you rollin‘…ist ja auch eher eine Hymne an RollstuhlfahrerInnen vielleicht. Aber bei dir gibt es so etwas nicht?

Karina:
Nein, ich glaube, es ist relativ schwierig, was unsichtbar ist, irgendwie in Songtexten aufzugreifen. Ich meine Sick and tired ist das einzige wirklich passende. Ist aber auch nicht meine Art von Musik. Ich höre das wenig, ich kenne ehrlicherweise auch gar nicht so viele Popsongs.

Jonas:
Ja, aber was hörst du denn?

Karina:
Heavy Metal.

Jonas:
Ja, warum nicht. Raúl, bist du Konzertgänger? Bist du Konzertgänger oder Konzert-Roller?

Raúl:
Gute Frage! Ja, ich bin Konzert-Roller. Ja, ich war jetzt zuletzt auf zwei Konzerten, und ich laufe jetzt mal kurz Gefahr, mich unbeliebt zu machen. Aber wenn du als Rollstuhl fahrender Mensch auf dem Konzert bist, dann kommst du ja oft auf diese RollifahrerInnen-Tribünen und neben mir sitzen da noch drei andere Menschen im Rollstuhl, die lauter singen als der Künstler auf der Bühne, oder die Künstlerin. Und ich habe einmal auf dem Grönemeyer-Konzert vor vielen, vielen Jahren dann irgendwann zu dem Typ neben mir gesagt: Sorry, ich bin nicht auf deinem Konzert. Es wäre cool, wenn du irgendwie leiser singen könntest.” Und er fand das nicht so witzig. Aber wir konnten beide ja auch nicht weg, weil das war der einzige zugewiesene Ort für Menschen im Rollstuhl. Aber daran kann ich mich erinnern. Und zuletzt war ich bei Enno Bunger – auch cooler Singer-Songwriter – und auf der RollifahrerInnen-Tribüne waren nur gute Freunde von mir – als ob wir uns verabredet hätten – und es war Zufall. 

Jonas:
Fast wie ein Wohnzimmerkonzert dann. 

Raúl:
Nein, das war der Festsaal Kreuzberg. Aber es hat sich so angefühlt, als ob man sich verabredet hätte, aber zufälligerweise ehemalige MitbewohnerInnen/ArbeitskollegInnen, meine Frau, die jetzt Mitbewohnerin geworden ist natürlich… Das war einfach nett.

Jonas:
Ihr wohnt auch schon zusammen?

Raúl:
Ja, wir wohnen sogar schon zusammen. 

Jonas:
Wir haben gerade schon gesprochen, dass quasi manchmal so… ja, nicht versteckte Botschaften zum Thema Behinderung drin sind. Aber wo man sagen könnte, Okay, hier sind irgendwelche Verknüpfung zum Lied, zum Song und zu irgendwelchen Behinderungsarten. Manchmal wird ja auch – Raúl, du hast eben Rap-Texte angesprochen – wird ja bewusst darauf Bezug genommen, beziehungsweise werden ja vielleicht irgendwie auch bewusst ableistische Begrifflichkeiten benutzt.

Karina:
Raúl hatte das gerade schon erwähnt. Da gab es diesen großen Skandal vor ein paar Jahren, da war ein Songtext von Lizzo, und sie hat das Wort, im Deutschen übersetzt, „Spasti“ verwendet. Da gab es aus der Community von Menschen mit Behinderungen ziemlichen Shitstorm für… aber da gibt es auch noch…

Jonas:
Hat sie ja recht.

Karina:
Ja, klar. Und blöderweise hat irgendwie zwei Wochen später Beyoncé dasselbe Wort noch mal in einem Song verwendet. Da war der Shitstorm dann noch ein bisschen größer, weil offensichtlich hätte sie es besser wissen müssen.

Jonas:
Kein Lerneffekt eingetreten?

Karina:
Scheinbar nicht.

Raúl:
Ich glaube, wir leben tatsächlich in Zeiten, wo man ein bisschen mehr darauf achten sollte, um Shitstorms grundsätzlich aus dem Weg zu gehen. Jetzt immer noch zu sagen: Oh, das wusste ich nicht! Oder man sagt das halt so – kann man heutzutage nicht mehr so ohne weiteres bringen.

Jonas:
Nein, aber auch interessant. Du, Karina, hattest auch ein Lied mitgebracht von den Black Eyed Peas „Let’s get it started“. Kennen vielleicht die Einen oder Anderen – aber in einer Version vorher ganz anders hieß.

Karina:
Ja, da war ich sehr schockiert. Ich kannte das auch nicht. Also ich kenne das als Let’s get it started. Das war meine Generation ein großer Popsongs, aber das hieß tatsächlich vorher Let’s get retarded. Und der komplette Songtext besteht im Endeffekt aus dieser Zeile, und das Original ist auch noch online tatsächlich.

Jonas:
Aber was will man damit ausdrücken? Also Let’s get it started – klar: Lass uns beginnen, lass uns anfangen. Retarded ist ja quasi auch noch einmal eine sehr diskriminierende Bezeichnung für zurückgeblieben”, behindert…

Raúl:
Durchdrehen…vielleicht meinen die sowas wie durchdrehen?

Karina:
Ja, das meinten die – deswegen haben sie es dann auch geändert in Let’s get it started – die meinten halt wie verrückt feiern, durchgedreht feiern, haben das aber halt eben nicht so ausgedrückt und waren sehr beleidigend. Also retarded wird im Deutschen eigentlich im medizinischen Kontext normalerweise verwendet und ist abwertend und heißt so etwas wie zurückgeblieben”, für Menschen mit Lernbehinderungen zum Beispiel. Deswegen war das natürlich hoch problematisch, und es ist irgendwie keinem aufgefallen, bis das Lied schon veröffentlicht war.

Jonas:
Ich konnte mich irgendwie ganz vage daran erinnern, dass ich das mal irgendwo auch gehört hatte. Und es gibt das Lied ja auch immer noch online, also in dieser Version zu hören. Also wie verrückt feiern, da gibt es ja auch noch Lieder wie Maniac, und da begibt man sich in Bereiche, wo es darum geht, diese Mischung oder diesen leichten Unterschied zwischen eigentlich relativ unbefangen zu sagen: Okay, man ist ausgelassen und irgendwie frei von irgendwelchen innerlichen Barrieren, vielleicht hin zu diesem verrückt, was ja auch dann schon zumindest früher, ja auch eine medizinische Diagnose war für Menschen mit psychischen Erkrankungen.

Karina:
Es werden Worte benutzt, die eigentlich abwertend gegen Menschen mit Behinderungen sind, in irgendeinem zum Beispiel Schimpfwortkontext. Also, dass jemand sagt: Oh, du bist doch behindert! Obwohl er eigentlich meint, du benimmst dich irgendwie Scheiße. Ja, das passiert in Songs halt genauso, weil da irgendwie die Awareness fehlt. Und es gibt viele völlig neutrale Worte, die man nutzen könnte, um das zu ersetzen. Aber es wird halt dann trotzdem aus irgendeinem Grund auf den abwertenden Begriff zurückgegriffen.

Jonas:
Macht es einen Unterschied, ob diese abwertenden Begriffe von KünstlerInnen benutzt werden, die selber eine Behinderung haben oder nicht? Also, wir haben eben über Rap, Hip-Hop gesprochen, da wird ja auch quasi von schwarzen KünstlerInnen das N-Wort genutzt. Weil es aber dann auch die Selbstbezeichnung, beziehungsweise auch, dass das wieder ins Positiv kehrende ist. Also vergleichbar ja auch mit der, sag ich mal, bei Menschen mit Behinderungen, mit der sogenannten Krüppelbewegung oder auch quasi, dass wir viele Begrifflichkeiten haben wie Crip Time, also quasi die Zeit, die man als Mensch mit Behinderung benötigt, als Mehraufwand also, wenn mal wieder irgendwelche Aufzüge nicht funktionieren. Im öffentlichen Personennahverkehr muss man einen Umweg fahren. Und diese Zeit, die man dort braucht, ist halt Crip Time oder Crip Costs, wo es um zusätzliche Kosten geht, die man vielleicht benötigt durch Hilfsmittel, Anschaffungen – also auch dort nehmen ja Menschen mit Behinderung dieses Krüppel-Wort wieder als Selbstbezeichnung für sich und wollen sich auch ein bisschen wieder ins Positive setzen. Ist es quasi ein Unterschied, ob jetzt KünstlerInnen mit Behinderungen auf der Bühne sind und vermeintlich ableistische oder diskriminierende Wörter benutzen?

Raúl:
Ich würde schon sagen, Ja, es macht einen Unterschied, weil ich dann schon auch davon ausgehe, dass er oder sie weiß, worüber da gerade getextet wird. Morgen tritt ja hier auf der Bühne auch Graf Fidi auf als Rapper und was ich bei Graf Fidi immer ganz cool finde, ist, dass er Wörter und Begriffe und Metaphern wählt, die auch noch eine andere Bedeutung haben können. Na also, es gibt ein Album von dem, das heißt Der schlimme Finger und er hat halt sechs Finger – also an einer Hand fünf und an der anderen einen. Und deswegen nennt er sich Der schlimmer Finger”. Und dann ist er ein Linkshänder, weil rechts hat er einen Finger. Und ein anderes Album von ihm heißt: Ich mache das mit links – und das finde ich irgendwie witzig. Wenn man da diese Zweideutigkeit wiederfindet, als immer nur über Barrieren zu rappen und immer nur über Probleme zu rappen. Nein, irgendwie auch ein bisschen charmant, respektlos und witzig auch damit, kreativ zu sein. Und natürlich haben KünstlerInnen, MusikerIinnen mit Behinderungen genauso das Recht darauf, über was ganz anderes zu rappen oder auch schlecht zu rappen. Ich möchte auch nicht, jetzt nur, weil ich betroffen bin, immer der Erklärbär sein. Wenn ich KünstlerIn bin, dann mache ich halt Kunst.

Jonas:
Also, Graf Fidi, den kennst du ja schon relativ lange. 

Raúl:
Witzigerweise, wir waren schon mal in einer Klasse!

Jonas:
Und so habt ihr euch quasi auch in unterschiedliche Richtungen bewegt. Also gut, ihr steht beide auf Bühnen, ähm, beziehungsweise sitzt. Und du hast ja irgendwann mal in einer der früheren Podcast-Folgen die Geschichte erzählt, dass du mit einem guten Freund mal um die Häuser gezogen bist. Wollen wir das revealen?

Raúl:
Also, es war folgendermaßen: Es war Ostern und Fidi und ich sind irgendwie durch Lichterfelde in Berlin gezogen, und uns war langweilig. Und dann hatten wir die Idee, dass wir einfach an Haustüren klingeln und sagen, wir sind vom Behindertenverein und sammeln Süßigkeiten für Ostern. Und am Ende sind wir mit zwei Müllsäcken voller Süßigkeiten zu Hause angekommen, weil wir so erfolgreich waren im Fundraising von Ostereiern und so weiter. Und als wir das dann meiner Mutter gezeigt haben, war die natürlich stinksauer. Behinderung ausnutzen ist einfach nie cool. Aber es war uns eine Lektion – also gerade Graf Fidi – ganz schlimmer Finger – traut ihm nicht!

Jonas:
Genau. Ich könnte euch auch gerne selbst davon morgen überzeugen. Da ist er auch hier auf dem Puls Open-Air-Festival. Ich hatte eben gesagt, dass ihr euch anders entwickelt habt, dass er Musik macht. Aber auch du hast mal einen Song aufgenommen, und zwar mit Eko Fresh – wie kam es dazu?

Raúl:
RTL hat eine Sendung gehabt, weiß gar nicht, ob sie die noch haben. Und die wollten zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen einen Sketch machen. Und die Idee war, dass ich gemeinsam mit Eko Fresh und seiner Frau einen Rap-Song unter dem Titel Toleranz Avengers produziere und über Inklusion rappe. Aber eben anders, als immer nur über Probleme zu rappen. Hab ich halt aus meiner Perspektive gerappt, dass ich halt Scheiße finde, dass die ganzen FußgängerInnen mit ihren E-Scootern 25 Stundenkilometer fahren dürfen, aber mein E-Rolli nicht schneller als sechs Stundenkilometer fahren darf aus Sicherheitsgründen. Und ich mir denke, na ja, warte mal kurz, da stimmt doch was nicht. Ich will ja jetzt nichts ins Weltall. Aber ich hätte schon gerne das Recht, auch schnell fahren zu dürfen. Und darüber haben wir unter anderem gerappt. Wir haben den Text gemeinsam entwickelt, und die Ursprungsversion des Textes war, ich sage mal so, ja, wie man das halt so kennt. Wir wollten halt auch noch ein bisschen mehr Wumms reinbringen. Aber ich bin absolut kein Rapper. Man hört super-krass den Autotune und habe aber überhaupt kein Rhythmusgefühl. Und das Video gibt es auf YouTube – guckt es nicht, okay! 

Jonas:
Aber ich glaube, also vom Gefühl her, also das, was du jetzt gerade gesagt hast…

Raúl:
Aber weißt du, was mich ein bisschen geärgert hat? Das sage ich jetzt unter uns hier, es hört ja keiner zu. Ich habe mich ein bisschen geärgert, ich glaube, ein Jahr später eine berühmte deutsche Soziallotterie, auch die Idee hatte mit Eko Fresh einen Inklusionsong zu machen. Und dann dachte ich so, ja, also Idee kopieren, finde ich dann doch ganz schön arm. Also, da hätte man auch kreativer mit umgehen können, als das Ganze jetzt noch mal anders zu machen. Also verstehst du, was ich meine? Also der Motivationspunkt war….

Jonas:
Also, Mensch, was ist das denn für eine Aktion, sage ich da! Aber du hast gerade gesagt, dass du kein Rhythmusgefühl hast. Und jetzt auch kein Rapper bist, und vom Gefühl her unterscheidest du….

Raúl:
Soll ich kurz über die Dreharbeiten reden? Weil das war total witzig. Wir waren in Berlin-Kreuzberg in so einem Studio. Das war einfach komplett weiß. Und die hatten einen Greenscreen aufgestellt und Eko Fresh wurde extra eingeflogen mit seiner Frau. Und dann saßen wir halt in diesem kleinen Raum und haben bestimmt 20/30 Mal das Gleiche gemacht. Und dazwischen wurden die Kameras immer umgebaut und umgestellt. Und dann saßen wir eigentlich auch nur Backstage und haben alle auf unsere Handys geguckt. Also, wir haben uns auch nicht viel zu sagen gehabt in dem Moment, weil ich war aufgeregt, er hatte irgendwie Stress, und es war so bizarr, weil wir… es war halt ein Arbeitstermin und so jetzt wirklich kennengelernt haben wir uns erst nach dem Dreh, aber nicht während des Drehs und er war den ganzen Tag da!

Jonas:
Okay, Karina, wie ist es für dich im Sinne von, wie sehr ist auch der Unterschied auf der einen Seite, dass, wenn KünstlerInnen mit Behinderungen auch entweder ihre eigene Behinderung oder generell das Thema Behinderung, Inklusion, Ableismus, was auch immer… also alles das, was uns als Menschen mit Behinderung so umtreibt, thematisieren. Wie empowernd kann das auch sein? Versus auch einfach zu sagen als Menschen mit Behinderungen: Boah, ich lebe ja in meinem eigenen Körper und beschäftige mich eh schon 24/7 damit. Jetzt sich auch noch damit quasi in der Kunst auseinanderzusetzen oder in meiner Freizeit oder in dem, was ich quasi musikalisch mache, das muss ja irgendwie auch nicht sein.

Karina:
Also ich glaube, das muss jeder machen, wie er meint. Aber ich bin da auch wahrscheinlich nicht ganz neutral, weil, irgendwie besteht mein Leben, glaube ich, auch zu 90 Prozent aus irgendwie Filme machen über Behinderung, Menschen mit Behinderungen, Texte schreiben usw. Ich beschäftige mich auch rund um die Uhr damit und dann natürlich auch wegen meiner eigenen chronischen Erkrankung, die irgendwie auch immer präsent ist. Aber ich glaube schon auch, vor allem, wenn man eine gewisse Plattform hat, das es schon irgendwie wichtig ist, die zu nutzen auch für solche Themen, weil es einfach trotzdem noch so wenig Awareness gibt, was die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen angeht. Und wenn ich eine große Plattform habe, ist es eigentlich schon ganz nice, die auch mal zu nutzen, dann gerne auch für das Thema. Es muss vielleicht nicht rund um die Uhr sein, aber ich fände es, glaube ich, schon schön, wenn es zumindest immer mal wieder Thema ist.

Jonas:
Raúl, du hast ja auch… der Song war ja auch quasi über Inklusion. Also hast ja auch das gemacht oder gesagt, okay, du hast die Reichweite, damit dann quasi eben auch Leute zu erreichen, die sich noch nicht so mit dem Thema auseinandergesetzt haben. Oder hättest du gerne auch… über was hättest du sonst gerne gerappt? 

Raúl:
Das ist eine wirklich gute Frage: Warum hast du da mitgemacht? Also ich hab da mitgemacht, ganz ehrlich, weil ich es irgendwie eine coole Idee fand. Ich war neugierig: wie ist es denn eigentlich und ich fand es interessant, mal einem RTL-Publikum und nicht unbedingt einem öffentlich-rechtlichen Publikum eine Perspektive zu geben, die sie vielleicht nicht so oft haben. Also es ging mir weniger um die künstlerische Darbietung. Einfach eine andere Zielgruppe zu erreichen. Worüber würde ich sonst rappen? Wahrscheinlich… ich bin ja ein Berufs-Behinderter. Wahrscheinlich wäre das weiterhin Inklusion, Barrierefreiheit, aber vielleicht mit einer anderen Perspektive. Und ich würde dann eher die Nichtbehinderten alle dissen, als immer über Probleme zu rappen.

Jonas:
Steht das auch in deiner Steuererklärung drin, also Berufsbezeichnung Behinderter? 

Raúl:
Da steht irgendwas von Projektleitung, keine Ahnung. Aber, ja, auf meiner Visitenkarte steht Aktivist – ist weit genug, oder? 

Jonas:
Ja, absolut. Ich finde dieses sich natürlich dann mit dieser Thematik auseinandersetzen… Ich glaube, es ist sowieso dann diese Krux an der Sache, dass man natürlich als… nicht jeder Mensch mit Behinderungen muss ja zwangsläufig irgendwie aktivistisch unterwegs sein oder sich für das große Ganze in der Welt Barrierefreiheit für alle irgendwie einsetzen. Aber ich habe ja immer so im Kopf, wenn nicht wir als betroffene Personen das irgendwie selber machen, dann machen es eben andere, die vielleicht eben nicht betroffen sind. Und dann wird es Scheiße. Und deswegen ist es immer diese… man landet zwangsläufig irgendwie in der Situation, sich damit auseinanderzusetzen. Ich meine, Karina, du gehörst ja genauso in den gleichen Club der Personen, die ihre Behinderung im Laufe des Lebens erworben haben oder beziehungsweise, irgendwann kam die Klarheit über die Diagnose, oder?

Karina:

Es ist eine genetische Erkrankung, das heißt, ich bin damit geboren worden. Aber ich hatte praktisch eigentlich keine Symptome, bis ich Mitte 20 war. Und das hat dann ewig gedauert, also insgesamt vier Jahre, bis ich tatsächlich eigentlich überhaupt wusste, was ich habe. Also das heißt Ehlers-Danlos-Syndrom, ist eine Bindegewebserkrankung. Wobei ich aber auch, also, nachdem das eine unsichtbare Erkrankung ist, habe ich ja durchaus auch das Privileg, dass ich inkognito sein kann. Also ich kann Leuten sagen, dass ich eine unsichtbare Behinderung habe. Ich muss aber auch nicht. Und das ist auch… also viele Menschen in meinem, also in meiner kleinen Community von Leuten mit Ehlers-Danlos-Syndrom, können sich auch gar nicht erlauben, wirklich zu sagen, dass sie chronisch krank oder behindert sind, weil sie Angst haben, den Job zu verlieren, weil sie Angst haben, deswegen irgendwie anders diskriminiert zu werden. Insofern habe ich eigentlich auch ein ziemlich großes Privileg, überhaupt hier zu sitzen und, wie Raúl so schön sagt, berufsbehindert zu sein, ist auch ein Privileg, in dem Fall zumindest.

Jonas:

Du musst dich halt immer wieder outen, immer wieder sich quasi erklären oder eben sagen, warum du gewisse Sachen vielleicht jetzt irgendwie gerade temporär nicht kannst. Chronische Erkrankung kann ja auch chronisch mal besser, mal schlechter sein. Und natürlich dieses Privileg zu haben, auch in der großen Masse eben unterzugehen. Das geht bei dir, Raúl, eben nicht, du … 

Raúl:

Ich kann mich auf den Kopf stellen, bin trotzdem im Rollstuhl, nämlich ein Rollstuhlfahrer auf dem Kopf. 

Jonas:

Das Teil wiegt ja 250 Kilo. 

Raúl:

Da musst du sehr stark sein.

Jonas:

Da rate ich dir von ab. 

Raúl:

Stiernacken!

Jonas:

Aber gleichzeitig ist es natürlich so, dass, wenn du jetzt auf ein Konzert oder auf ein Festival gehst, können, sage ich mal, Karina und ich als FußgängerInnen natürlich immer auch eine gewisse Freiheit haben, welche Plätze wir haben wollen. Für dich, Raúl, bleibt meistens nur die Rolli-Tribüne. 

Raúl:

Ja, also, das fängt ja noch viel früher an, oft sind ja Festivals zum Beispiel jetzt nicht gerade im Stadtzentrum, außer Berlin Tempelhofer Feld. Aber sonst ist es schwierig, und da muss man auch erst mal hinkommen. Also mit dem öffentlichen Personennahverkehr geht das nicht immer. Wir sind hier heute bei München und da wurde uns extra ein Shuttle besorgt, das einen elektrischen Rollstuhl transportieren kann. Danke dafür. Aber sonst wüsste ich gar nicht, wie ich zum Beispiel hier gut hinkäme. Und dieses Festival ist tatsächlich vorbildlich. Es gibt andere Festivals, ich sag jetzt mal keine Namen, aber es gibt andere Festivals oder auch Konzerte im Allgemeinen, wo du eigentlich schon daran scheiterst, überhaupt an die Rolli-Tickets zu kommen. Der Herr Tim von Eventim oder der Master von Ticketmaster sollte dieses Problem echt mal gelöst bekommen in seinem Scheißladen. Habt ihr mal versucht, online Tickets zu bestellen, die die Rollstuhl-Tribüne bedeuten würden? Egal wo, ob es die Uber-Arena ist oder die Allianz-Arena, es ist scheißegal wo ihr hinwollt, es fühlt sich einfach niemand zuständig. Es fühlt sich niemand zuständig, diese Rolli-Tickets auszugeben. Und da muss man teilweise kostenpflichtige Hotlines anrufen. Da musst du Wochen vorher buchen, dann können sie es auch nicht versprechen. Aber bezahlen sollst du schon mal, und das ist einfach so unwürdig. Es ist wirklich leichter, bei der Deutschen Bahn ein Rolli-Ticket zu buchen, als auf einem Konzert, wo die Rolli-Plätze auch immer gleich sind. Ja, und das fuckt mich wirklich wirklich ab. Und es ist nicht in Ordnung, dass das überhaupt erlaubt ist, so mit Menschen mit Behinderung umzugehen, das muss ich einfach vorwegschicken. Und wenn du dann einmal auf dem Festival bist … Äh, wie gesagt, das hier ist relativ vorbildlich. Aber es gibt natürlich auch Festivals, die sind dann auf Sand gebaut und da ist im Rolli auch nicht so gut vorwärtszukommen. Und die Fressbuden sind auf so Europaletten aufgebaut. Und dann kommst du mit dem Rolli auch nicht nah genug ran, und so hoch kannst Du auch gar nicht fahren. Du kannst überhaupt gar nicht mit den Leuten sprechen, weil zu weit weg. Und es ist auch laut auf Festivals, in der Regel. Also es gibt eine Menge, die man auf Konzerten und Festivals verbessern könnte. Aber hier dankenswerterweise von der Initiative „Barrierefrei feiern“, die uns hier wirklich königlich, fürstlich, prinzenhaft versorgt haben, kann ich mich wirklich nicht beschweren. Vielen Dank! 

Jonas:

Ziehst du dann auch mit dem Prinzen zusammen hier auf Schloss Kaltenberg? 

Raúl:

Ja, ich habe gehört, das soll ganz schön sein. Ja, ich wollte den weißen Schimmel sehen.

Jonas:

Aber ich finde quasi die Erlebnisse, die du gerade geschildert hast, gerade beim Ticketkauf … diesen Schmerz, den fühle ich total. Aber auf einer ganz anderen Ebene, was meine persönlichen Erfahrungen sind. Also dieses Gefühl von … dass du quasi bei der extra Schwerbehinderten-Hotline anrufst, wo ich erstmal schon mal sage, dass ist … 

Raúl:

… die kostenpflichtig ist!

Jonas:

Echt? 

Raúl:

Oft, ja. 01805-Nummern.

Jonas:

Auf jeden Fall meine Ohren bluten schon wegen des fünf Stunden langen Johnny Cash hören in der Warteschleife. Also jetzt nichts gegen das Lied an sich, aber irgendwann reicht es auch. 

Raúl:

Und es sind immer überraschenderweise extrem viele Anrufer in der Hotline. Und dann denkst du immer, das kann ja auch nicht sein! 

Jonas:

Also wenn man sich auf normalen Festivals mal anguckt, wie viele Menschen mit Behinderungen dort sind …  keine Ahnung … vielleicht machen die sehr intensive Beratungsgespräche. Das kann natürlich sein. Aber bei mir ist häufig gerade dann, wenn du bei dieser Hotline anrufst und ja auch das Recht hast, durch einen Schwerbehindertenausweis eine Begleitperson kostenlos mitzunehmen … diese Diskussion, die ich immer wieder führen muss, dass ich quasi nicht im Rollstuhl sitze, weil die kennen nichts anderes. Also, du hast vom Herbert-Grönemeyer-Konzert gesprochen. Ich war letztes Jahr in Berlin bei dem Konzert, und ich rufe da quasi an und sage: „Guten Tag, ich hätte gern…“, weil meine Eltern wollten auch mit, „…zwei normale Tickets, dann ein Ticket für mich als schwerbehinderte Person und eine Begleitperson.“ 

Raúl:

Und ein Backstage-Ticket?

Jonas:

Nö, diesmal nicht. Auf jeden Fall war dann die Frau erstmal relativ pampig in dem Moment, dass sie sagt: „Ja, Rollstuhlplätze sind ausverkauft.“ Ich: „Ja, ich sitze ja nicht im Rollstuhl, ich hätte gern so ein normales Ticket.“ Sie: „Ah, ok!“, hat sie den Auftrag angenommen, sie kümmert sich darum, sie rufen dann zurück. Das ist auch immer dieses sie „rufen dann zurück“. Und dann, mehrere Stunden später, klingelt das Telefon. Ja, sie hat herausgefunden, dass können die gar nicht selber buchen. Ich muss beim Veranstalter anrufen. Genau, da habe ich aus Berlin beim Veranstalter in Krefeld angerufen, der das Konzert in Berlin plant. Die haben dann, nachdem ich da tagelang nicht durchgekommen bin, mir dann gesagt: „Ja, ist alles schön gut. Schicken Sie eine Mail“. Dann hab ich eine Mail hingeschrieben, und meine Eltern im Hintergrund: „Haben wir jetzt die Tickets? Weil ist ja auch irgendwann ausverkauft“. Und dann haben sie sich nicht gemeldet und haben sich nicht gemeldet. Dann habe ich quasi nochmal eine Mail geschrieben und angerufen. Dann war der Ticketdrucker kaputt, wo die gesagt haben: „Das müssen wir erstmal reparieren. Sie kriegen das aber auf jeden Fall“. Und das war quasi ein Zeitraum von drei Wochen, die es gedauert hat, von dem Impuls „Ja, wir haben uns entschieden, diese Tickets zu kaufen“, bis die dann auch schlussendlich da waren. Immer wie gesagt, mit dem Hintergedanken … ich habe gesagt: „Ja, komm“, weil ich als betroffene Person, für mich ist es dann irgendwie leichter, mich selber darum zu kümmern, „Ich kümmere mich um die Tickets für alle“. Und hatte natürlich immer diesen Druck: was ist los, wenn es jetzt nicht funktioniert, ja, in drei Wochen ist es ausverkauft gewesen, tut mir leid. Ähm, also dieser Schmerz damit, wie anstrengend das ist, sich dort irgendwie Tickets zu ergattern, ist verständlich. Weil für dich, Karina, du gehst einfach zackig in den Innenraum, oder?

Karina:

Theoretisch ja, klar, könnte ich. Aber ich war schon bestimmt seit zehn Jahren nicht mehr auf einem Festival, obwohl ich früher eigentlich immer total gern auf Rock im Park oder anderen Rock-Festivals war. Aber nachdem keiner mir ansieht, dass ich vielleicht irgendwelche Beeinträchtigungen habe und ich aber auch gleichzeitig eigentlich nicht zum Beispiel die Rollstuhlplätze in Anspruch nehmen kann, ist es halt schwierig, weil einfach, wenn mich jemand anrumpelt, ist es ein Problem. Ansonsten stehe ich halt ganz hinten. Das bringt mir nicht so viel. Da kann ich auch eine CD hören. 

Jonas:

Du hast aber auch gesagt, dass du Metal-Konzerte früher auch gerne mal … mit Headbanging und allen drumherum?

Karina:

Da ging das noch. 

Jonas:

Ist das der Grund, warum du deine Behinderung hast? 

Karina:

Nee, das kam vom Stage Diving. (Lacht)

Jonas:

Wurdest du nicht gehalten?

Karina:

Genau, einfach in die Mitte gefallen … Nein, Quatsch natürlich nicht. Aber auch früher habe ich so etwas gerne gemacht. Heute geht das nicht mehr.

Jonas:

Aber was ist dann für dich persönlich … also, wenn du jetzt sagst, okay, Konzertbesuche … sind es dann bestimmte abgesperrte Bereiche, die für dich in Ordnung sind, also quasi Safe Spaces? Oder geht es doch eher in den Bereich Ghettoisierung.

Karina:

Ich finde es total schwierig. Also einerseits es gibt durchaus Tage, wo ich mich, glaube ich, ganz wohlfühlen würde in einem separaten Bereich mit Menschen, die ähnliche Behinderungen haben und einfach …

Jonas: 

In einer Loge … 

Karina:

VIP-Lounge!

Jonas:

Bring mir einen Aperol Spritz! 

Karina:

Das wäre auch nett, aber neee, keine Sonderbehandlung, sondern einfach nur Leute, die aware sind, was ich brauche. Und dass sie mich vielleicht einfach nicht herumschubsen, das wäre schon ganz nett. Gleichzeitig finde ich es auch schwierig, behinderte Menschen separiert in einen Bereich zu stecken ohne nichtbehinderte Menschen. Ich glaube, ich fände es schön, wenn es eben zum Beispiel einen Awareness-Bereich gäbe, wo alle zusammen feiern können, aber mit der Awareness, dass da Leute dabei sind, die man vielleicht nicht irgendwie anspringt und umwirft.

Jonas:

Raúl, ist es das häufig, weil es das nicht gibt, dass das einem dann auch so ein bisschen die Stimmung madig macht häufiger auf Konzerte zu gehen? Oder was steht denn auf deiner Bucketlist?

Raúl:

Total. Die Orga ist wirklich anstrengend, überlegt man sich zweimal … muss man jetzt, ist man so ein großer Fan, dass man diese Reise auf sich nimmt? Mit fällt gerade noch ein, ich bin ein großer Fan der Max-Schmeling-Halle in Berlin, weil da auch viel Basketball gespielt wird, auch für Rollstuhlbasketball. Und die haben sehr, sehr viele Rollstuhlplätze für ZuschauerInnen. Und wir kaufen inzwischen einfach normale Tickets, weil es ist immer irgendwie was frei, und die Rolliplätze sind immer in der Nähe der Bars, also, wo man Essen oder Trinken noch kaufen kann und meistens in der Nähe der Toiletten. Und um dahin zu kommen, jedenfalls war das jetzt bei uns, weil ein Eingang defekt beziehungsweise gesperrt war, wurden wir durch die Katakomben geführt von dem Sicherheitspersonal. Und dann begegnet uns der Vor-Act der Band. Also das war auch nett. Man sieht dann auch Dinge und Bereiche, wo nicht behinderte Menschen das vielleicht nicht sehen. Solche Momente mag ich ja sehr. Ich gucke gerne hinter Türen, die halb aufstehen, und fahr auch gerne rein, weil war ja halb auf. Und da habe ich auch schon viele schöne und auch nicht so schöne Dinge gesehen oder zur falschen Zeit reingeguckt; gab es auch schon.

Jonas:

Magst du was teilen, oder darfst du nicht sagen?

Raúl:

Ja, also Menschen, die gerade dabei waren, sich umzuziehen zum Beispiel. Oder ich wusste dann, wo der Champagner steht, für danach. 

Jonas:

Stand! 

Raúl:

Ja, stand, genau! Und ihr kennt das ja vielleicht auch bei so kleineren Klubs, dass dann auch die Rolli-Toilette mit Getränkekisten vollgestellt ist oder Bierbänken. Was auch nicht cool ist, wenn du auf Toilette willst und die Rolli-Toilette einfach zum Lager umfunktioniert wurde. Und wir sind inzwischen dazu übergegangen, meine Frau und ich, wir klauen dann einfach die Getränke aus der Toilette, einfach so. 

Jonas:

Das kann man auch falsch verstehen. 

Raúl:

Ja, aber es ist auch Rache, ehrlich gesagt. 

Jonas:

Ja, absolut. Was ist das Absurdeste, was du jeweils auf einer rollstuhlgerechten Toilette gefunden hast? Wir haben irgendwann mal auf unserem Social-Media-Kanal so ein Bullshit-Bingo gemacht, die absurdesten Sachen, die man so … von knutschendes Pärchen, die einfach ihre Ruhe haben wollten, die komplette Außengastro des Lokals, Katzenstreu …

Raúl:

Also ja, ist mir tatsächlich vor kurzem passiert, bin ich ICE gefahren, und die Rolli-Toilette war zu. Und der Schaffner meinte, ja, die ist schon eine Weile zu, holte seinen Schlüssel, machte auf und da hatten gerade zwei Menschen Sex drin. Das war allen unangenehm. Der hat sich dann auch bei mir entschuldigt, aber ich glaube, der Schaffner wird das auch nie vergessen. 

Jonas:

Wer hat sich entschuldigt? Das Pärchen? 

Raúl:

Alle. Eine ganz schlimme Situation.

Jonas:

Aber das ist ja auch immer was Schönes, was man so abends an der Bar erzählen kann, was einem so neulich passiert ist. Aber es ist natürlich irgendwie auch gerade – und ich finde das beim Thema Musik, Kunst, Festivalbesuche – dieses Disability Mainstreaming, also dass sowohl Barrierefreiheit, Zugänge, die unterschiedlichen Bedarfe, quasi auch Behinderungsarten, wie selbstverständlich mitgedacht werden, im Sinne des Mainstreaming. Ich bin zum Beispiel kein Freund von solchen Veranstaltungen. Und da sind wir dann, glaube ich, auch wieder bei Empowerment und unter sich sein. Aber wenn es einzig und allein Festivals sind, die auch schon dieses Label Inklusions-Festival oder irgendwas haben, wo es dann ausschließlich nur um das Thema geht, also, da bin ich wieder bei diesem Bereich: Okay, ich beschäftige mich eh 24/7 mit dem Thema Behinderung, weil ich eine Behinderung habe. Ich beschäftige mich beruflich damit. Und wenn ich dann auch noch sage, okay, ich möchte jetzt einfach mal auf ein Konzert gehen und habe jetzt quasi einzig und allein nur dieses Thema wieder um mich herum, wo ich dann auch irgendwie gerne mit der gleichen Barrierefreiheit oder mit der gleichen Zugänglichkeit und dem Awareness-Konzept auch auf alle möglichen anderen KünstlerInnen, die wesentlich bekannter sind, ja, auch vielleicht, weil sie eben auch gefeatured werden, weil sie eben keine Behinderung haben, dass ich eigentlich auch auf die Leute treffen möchte. Also was dann wieder so Sonderveranstaltungen sind, wo ich mir wünschen würde, genauso wie es hier heute beziehungsweise an den Tagen halt ist, dass, wie selbstverständlich eben auch KünstlerInnen mit Behinderungen hier auf dem Festival stattfinden und ihre Kunst darbieten können.

Raúl:

Ich glaube, wir haben halt auch ein Henne-Ei-Problem. Also, es wird ja oft gesagt, wir kennen aber keine berühmten Menschen mit Behinderungen, die wir auf die Bühne eins stellen würden. Und dann landet man immer auf Bühne drei oder auf den Miteinander-Festivals. Und da wird man halt auch nicht berühmt. Und ich glaube, ich würde mir wünschen von VeranstalterInnen, dass sie auch mal den Mut haben, Graf Fidi auf Bühne eins einem Publikum vorzustellen, die ihn vielleicht noch nicht kannten. Nur so wird man berühmt, dass die Bühnen immer größer werden und nicht als Feigenblatt auf Bühne drei oder so. Ich werde es ihnen jetzt hier nicht unterstellen, aber es ist einfach oft so – so erlebe ich das oft – es gibt großartige KünstlerInnen mit Behinderungen, die aber eben nicht die Reichweite bekommen, die sie haben müssten für die Qualität der Musik oder Kunst, die sie machen. Und was ich schon aber beobachte, ist dass das Thema mentale Gesundheit und auch psychische Erkrankung und so in der Popwelt immer mehr Bedeutung findet. Und es sind dann oft ja auch aus eigener Erfahrung geschriebene, geschilderte Geschichten. Und das würde ich mir wünschen auch zum Thema sichtbare Behinderung.

Jonas:

Ja, absolut! Wann ist der Part, Karina, wo – jetzt nicht für dich, aber – für die Community der Menschen mit chronischen Erkrankungen und unsichtbaren Behinderungen hier auch, also auch da nicht diese gewisse … wir wollen eine Sichtbarkeit schaffen für eine unsichtbare Behinderung oder für etwas, was wir vielleicht auch gar nicht so sichtbar machen wollen oder, beziehungsweise wenn es dann sichtbar gemacht wird, ja häufig auch mal immer sehr klischeehaft sichtbar gemacht wird. 

Karina: 

Ich glaube, wenn wir irgendwann mal an den Punkt kommen, wo ich nicht jedesmal hören muss „oh, du siehst aber ja gar nicht krank aus“. Das ist so das Klischee, der Spruch, den ich die ganze Zeit höre. Und wenn wir irgendwann mal dahin kommen, wo Leute einfach verstehen, dass, wenn ich sage: „Und ich habe eine Behinderung“ und die einfach sagen „Ja, klar“ und das ist überhaupt kein Ding mehr, dann, glaube ich, bin ich sehr happy. 

Jonas:

So eine gewisse Selbstverständlichkeit.

Karina:

Ja, wo es einfach kein Special Ding ist.

Raúl:

Wir haben ja die Folge angefangen mit 50 Jahre, 50 Folgen, goldene Hochzeit und so. Und solange wir jetzt schon zusammenarbeiten, ist mir auch immer mehr aufgefallen, wie zum Beispiel auch Ruheräume oder Ruhezeiten, auch für mich als jemand, der es vielleicht nicht offensichtlich benötigen würde, auch guttun. Und ich denke, dass 90 Prozent der Gäste hier auf einem Festival auch mal happy sind, wenn man sich hinsetzen kann oder wenn es mal ein bisschen ruhiger ist und nicht permanent Lärm. Und das heißt, es geht nicht immer nur um Menschen mit Behinderungen, die irgendetwas brauchen, sondern am Ende ist ein Festival mit Awareness für solche Themen ein besseres Festival für alle.

Jonas:

Eine Tatsache. Wie quasi Silent Camping, also ein Campingbereich, wo man seine Ruhe haben kann … Wahnsinn! 

Raúl:

Oder Elektro, also Steckdosen, wo man nicht nur Elektrorollstühle auflädt, sondern auch Smartphones.

Jonas:

Du hast ja am Anfang gesagt, wir haben über unsere goldene Hochzeit, fünfzigste Podcast-Episode, gesprochen. Hochzeit war ja auch ein bisschen Thema, Wrecking Ball, Karina, einmal den Rotwein quer über den Tisch. Das habe ich gar nicht mitbekommen! Wo war ich denn da? 

Karina:

Du warst glücklicherweise weit genug weg. 

Jonas:

Ich war am Aperol-Stand, glaube ich, gewesen. Wir haben natürlich unsere 50. Podcast-Folge damals angemessen gefeiert, aber, glaube ich, noch gar nicht so bewusst … würden wir es schaffen, uns zu einigen, auf welche Konzerte oder auf welche Veranstaltung wir drei gemeinsam gehen können? Weil es ist ja, glaube ich, auch diese Tatsache gerade dann, wenn man als Gruppe von Menschen mit Behinderungen unterwegs ist, dass es halt dann unterschiedliche Barrierefreiheitsbedarfe auch gibt, die manchmal auch an einem Ort gar nicht zusammenkommen. Also – das hat jetzt nichts mit Konzerten zu tun – aber bei Fußballstadien hat man zum Beispiel gesonderte Plätze, wo nur in dem Bereich die Audiodeskription zu empfangen ist, was aber eben nicht die Plätze sind, wo Leute mit dem Rollstuhl hinkommen, oder wenn du jetzt ins Kino gehst, finde mal einen Kinosaal, wo mehrere rollstuhlgerechte Plätze nebeneinander sind, um in einer Gruppe dort hinzugehen. Schaffen wir das, irgendeine Veranstaltung zu finden, die uns inhaltlich gefällt und wir dort auch noch quasi alle Barrierefreiheitsbedarfe abgedeckt haben, dass wir die irgendwie auch gemeinsam genießen können? Gut, in die Mosh-Pinte mit euch beiden würde ich eh nicht gehen; beziehungsweise auch, das ist zwar für Menschen mit Sehbehinderung, wenn du im Innenraum … ich bin sehr, sehr gerne in dem Innenraum, um das ganze Konzerterlebnis irgendwie so aufsaugen zu können. Aber wehe, du musst einmal kurz auf die Toilette zwischendurch. Ich finde die Leute, mit denen ich da dahingehe, nie wieder. Da ist quasi der Stecker gezogen. Und ich sage okay, ich gehe kurz aufs Klo, und wir treffen uns, wenn die Show vorbei ist, am Ausgang, wenn ich den Ausgang dann finde. Da ist dann der Bereich. Und finden wir was?

Raúl:

Also ich glaube, wir müssen uns erst mal inhaltlich einigen. Das wäre jetzt die größte Herausforderung. Aber wir sind ja gerade auf einem Festival, ich glaube, hier ist für alle was dabei.

Karina:

Ja, und wir wollten doch gleich noch zum Lumpenpack gehen zusammen, das haben wir doch schon inhaltlich festgelegt.

Jonas:

Genau, also, wenn ihr uns nachher noch treffen möchtet auf der großen Bühne: das Lumpenpack werden wir uns gemeinsam angucken und natürlich in unseren privaten Ruhebereich auch gehen, irgendwie in den Backstage-Bereich vielleicht. 

Raúl:

Einfach, weil es geht!

Jonas: 

Weil es geht, richtig. Wenn ihr gerne mehr von uns hören und lesen und wissen möchtet, geht gerne auf www.dieneuenorm.de. Da werden wir, wenn diese Podcast-Folge auch ausgestrahlt wird, und ihr sagt: Hey, das, was die dort auf der Bühne erzählt haben, das ist wahnsinnig interessant, das möchte ich mir gern noch mal irgendwie im Real Live anhören, wird es den Podcast dann auch am Ende des Monats in der ARD-Audiothek geben, bei Spotify, Apple Podcast und überall da, wo es Podcasts gibt. Und alle Informationen sind auf www.dieneuenorm.de, wo es dann auch die Shownotes gibt zum Nachlesen. Da können wir vielleicht auch mal ein paar weitere KünstlerInnen mit Behinderung, MusikerInnen mit Behinderung sammeln, um die einfach noch mal zu featuren, und um zu zeigen, es gibt sie. Manchmal brauchen die Leute ja einen gewissen Denkanstoß beziehungsweise einen kleinen Hinweis darauf, dass es ja eine gewisse Vielfalt eben auch in der Kunstszene gibt. Das sei an dieser Stelle gesagt; famous last words.

Raúl:

Ich habe mal in einem Moderations-Workshop gelernt, dass es genauso wichtig ist anzumoderieren wie abzumoderieren. Und die meisten Leute eiern dann so rum mit ewig langen Verabredungen und so. Man kann dabei einfach sagen: das war’s.

Das waren starke Zeilen? Dann gerne teilen!

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