Kinderbuch „Alle behindert!“ – Inklusion braucht Unterschiede

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Im Kinderbuch „Alle behindert!“ gelten „Tussis“, „Mitläufer“ oder „Rüpel“ als behindert. Literaturwissenschaftlerin Tanja Kollodzieyski analysiert das Buch und erklärt, warum dieser Ansatz einige Probleme mit sich bringt. 

Wäre die Welt toleranter, wenn alle Menschen eine Behinderung hätten? Im Kinderbuch „Alle behindert!“ gibt es zumindest niemanden ohne Behinderung und trotzdem einige Barrieren.  

Das Buch versammelt 25 Steckbriefe von verschiedenen Charakteren. Die Steckbriefe erinnern an die Freundschaftsbücher, die in Kindergärten und Grundschulen herumgereicht werden, damit die Kinder sie gegenseitig ausfüllen. Auf jeder Seite wird ein*e Protagonist*in mit einer großen Zeichnung vorgestellt. Die jeweilige Illustration befindet sich in der Mitte, drum herum sind die Antworten des Steckbriefes platziert. Daneben gibt es immer noch eine oder zwei kleinere Comiczeichnungen, die das Kind in einer Situation im Alltag zeigen.

Der Steckbrief enthält die typischen Kategorien wie „Was mag ich“ oder „Was mag ich nicht“. Daneben existiert aber auch die Eintragung „Behinderung“ und gleich mehrere Felder, die sich auf die Behinderung beziehen: „Wie gehe ich auf das Kind zu“, „Was lasse ich lieber“ oder „Was kann ich mit dem Kind spielen“. Außerdem gibt es Kategorien, die sowohl die Nachteile als auch die Vorteile einer Behinderung auflisten.

So stellen sich zum Beispiel Anna mit Down-Syndrom, Lenny mit Muskelschwund und die gehörlose Grethy vor. In dem Steckbrief von ihr steht zum Beispiel, dass sie durch die Gehörlosigkeit keine Musik hören könne. Ihr Vorteil: „Mit der Gebärdensprache hat man die Wirkung wie ein ein toller Schauspieler.“ So eine Aussage könnte von gehörlosen Menschen wiederum als problematisch aufgefasst werden. 

Allerdings gibt es im Buch auch Vanessa, deren Behinderung laut Steckbrief „Tussi“ ist. Daneben kommt auch Angeber Julien vor oder Martha, deren Schüchternheit ebenfalls als Behinderung definiert wird.  Ein Nachteil der Angeberei von Julien: „Viele Fans, aber keine echten Freunde“. Dafür „steht man im Mittelpunkt und wird angehimmelt.“    

Kontroverse Meinungen und Rezensionen

Laut dem Verlag Klett-Kinderbuch haben viele verschiedene Kinder an dem Buch mitgearbeitet, indem sie „von ihren Besonderheiten“ erzählten. Dazu gab es auch Aufrufe in den sozialen Medien. Die Autor*innen bemühten sich also sichtbar um Vielfalt.

Genau diese Vielfalt wird in den positiven Rezensionen zum Buch oft gelobt. Viele Schreibende beurteilen es als positiv, dass das Buch den Begriff „Behinderung“ soweit ausweitet, dass auch Eigenschaften wie Rüpel, Mitläufer oder Dicksein darunterfallen. In ihrer Rezension zum Buch schreibt die Autorin Andrea Paluch in der taz zum Beispiel: „Eine Überraschung und gleichzeitig große Stärke des Buches ist es, dass nicht zwischen angeborenen und sozialisierten Merkmalen unterschieden wird, so dass die gängige Vorstellung von Normalität schnell obsolet wird.“ 

Andere Rezensent*innen sehen den Ansatz des Buches durchaus kritischer. So kommentiert zum Beispiel der Blogger und Erzieher Daniel Horneber, das Buch sei zwar gut gemeint, aber nicht gut gemacht. Der Ansatz, dass das Buch charakterliche Eigenschaften als Behinderungen definiere, sei „hochgradig problematisch“

Auf Facebook äußern sich die beiden Autor*innen zu einigen Kritikpunkten und verteidigen ihren gewählten Ansatz damit, „dass alle Menschen irgendwie beeinträchtigt sind.“ Außerdem solle das Buch durch die gleichmachende Herangehensweise besonders nicht-behinderte Kinder an das Thema Inklusion heranführen.   

zwei kinder sitzen am tisch miteinander.
Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de

Wir sind nicht alle irgendwie behindert

Um zu verstehen, welche Probleme eine Ausweitung des Begriffs der Behinderung auf alle Menschen in sich trägt, lohnt sich ein Blick in die Disability Studies. Die Disability Studies beschäftigen sich aus einer wissenschaftlichen Perspektive heraus mit den Themen Behinderung und Inklusion. Dies geschieht oft vor dem Hintergrund anderer gesellschaftlicher Entwicklungen, denn Menschen mit Behinderung leben nicht abgegrenzt in ihrer eigenen Welt, sondern sie sind ein Teil der Gesellschaft. Diese Gesamtsituation wird unter dem Begriff des sozialen Modells der Behinderung zusammengefasst, das sich seit einigen Jahrzehnten innerhalb der Disability Studies durchgesetzt hat.

Behinderung kommt auch von außen

Der behinderte englische Sozialwissenschafler Michael Oliver prägte in den 1980er Jahren das soziale Modell als die Antwort auf das bis dahin vorherrschende medizinische Modell von Behinderung. 

Das soziale Modell stellt die Barrieren der Gesellschaft in den Mittelpunkt. Eine Behinderung besteht demnach aus mehreren Komponenten; sie umfasst sowohl die körperlichen Einschränkungen als auch die Ausgrenzung durch die Gesellschaft. 

Zu körperlichen Einschränkungen zählen die eingeschränkte Motorik oder das fehlende Chromosom. Die Ausgrenzung durch die Gesellschaft wiederum passiert durch alle Barrieren, auf die Menschen mit Behinderung in ihrem Alltag stoßen. Es sind aber auch die strukturellen Diskriminierungen durch Gesetze, die ihnen immer noch nicht dieselben Rechte zugestehen wie Menschen ohne Behinderung. Die Behinderung besteht folglich in der mangelnden gesellschaftlichen Teilhabe. 

Beispiele für mehr Teilhabe wären: Barrierefreie Züge, mehr Informationen in leichter Sprache und in Braille-Schrift oder Untertitel im Fernsehen. Aber auch rechtliche Inklusion wie freie Wahl des Wohnortes gehört dazu. Das soziale Modell macht also deutlich, dass eine Behinderung nicht nur innerhalb der eigenen körperlichen Grenzen besteht, sondern dass der diskriminierende Umgang der Gesellschaft mit den Einschränkungen ebenso eine Behinderung bestimmt.

Lebenslange Diskriminierungen nicht mitgedacht

Die strukturellen Diskriminierungen und Barrieren werden bei Sätzen wie „Wir sind doch alle irgendwie behindert“ mindestens nicht mitgedacht, oft sogar bewusst ausgeblendet. In diese Falle tappt leider auch das Buch „Alle behindert!“. Kinder mit charakterlichen Eigenschaften wie „Tussi“, „schüchtern“ oder „Mitläufer“ können sich in ganz bestimmten Situationen sicherlich auch eingeschränkt fühlen, aber sie werden nicht jeden Tag von der Gesellschaft diskriminiert. Sie können jeden Ort problemlos erreichen oder später ihren Wohnort und ihren Arbeitsplatz freier wählen. Das sind Möglichkeiten, die sich Anna mit Down-Syndrom hart erkämpfen muss oder vielleicht auch niemals erreicht. Außerdem können und werden sich charakterliche Eigenschaften während des Lebens ändern, während eine Behinderung in den meisten Fällen nicht wieder verschwindet. Dass Alfredo ein „Essensnörgler“ ist, kann also maximal eine Momentbeschreibung sein, während die Blindheit Kinder wie Ronja durch ihr ganzes Leben begleiten wird. Durch dieses Ungleichgewicht scheint es nicht fair, alle auf die gleiche Ebene zu stellen, weil es die unterschiedlichen Problematiken unsichtbar macht. 

Nun können wir fragen: Ist nicht der Sinn der Inklusion, dass wir alle gleich wahrgenommen werden? Nein, denn die Inklusion will nichts vortäuschen, das nicht realistisch ist: Menschen sind verschieden. In einer inklusiven Welt wäre es völlig in Ordnung, dass wir alle unterschiedlich sind und verschiedene Bedürfnisse haben. In einer inklusiven Gesellschaft würden diese verschiedenen Bedürfnisse nicht miteinander verglichen oder bewertet werden, so wie es das Buch mit der „Mitmach-Skala” auf jeder Seite vorgibt. Das Ideal der Inklusion ist, dass alle die gleichen Möglichkeiten haben, obwohl wir alle verschieden sind. Das sind Ziele, die noch nicht erreicht sind, deswegen brauchen Menschen mit Behinderungen Räume, um über Diskriminierungen zu sprechen. Diese Räume werden den Menschen genommen, wenn alle in irgendeiner Weise als behindert gelten. 

Das Buch enthält keinerlei Handlungen. Es erzählt keine Geschichte. Die Protagonist*innen werden einzeln vorgestellt, es wird aber nicht gezeigt, wie die Kinder miteinander spielen. Das Buch kann also keine Verbindung zur Alltagswelt der lesenden Kinder herstellen. Durch den immer gleichen Aufbau der Seiten lassen sich die Antworten zwar gut miteinander vergleichen, Spannung kommt so aber natürlich kaum auf.

Behinderungen werden unsichtbar

Das Kinderbuch „Alle behindert!“ bemüht sich darum, die Vielfältigkeit von Kindern darzustellen und über verschiedene Bedürfnisse und Talente von Kindern mit Behinderungen aufzuklären. Dadurch, dass alle Eigenschaften der Kinder im Buch als Behinderungen bewertet werden, werden die Herausforderungen und Diskriminierungen von Kindern mit Behinderung unsichtbar gemacht. Außerdem verpasst das Buch die Chance, jungen Kindern durch eine spannende Erzählung ein Beispiel für einen inklusiven Alltag zu geben.

Kinderbücher zum Thema Vielfalt und Inklusion stehen vor der durchaus schwierigen Ausgabe, das Thema konkret aufzugreifen, ohne dabei Betroffene unsichtbar zu machen oder ihre Lebenswirklichkeit abzuwerten. Genau das schafft das Buch „Alle behindert!“ in der Umsetzung nicht. Aus diesem Grund fällt es leider in die Kategorie „gut gemeint ist nicht immer gut gemacht.“

Andere Kinderbücher wie „Wenn ich in die Schule geh, siehst du was, was ich nicht seh“ von Julie Völk oder „Die bunte Bande“ von Corinna Fuchs, Uli Velte und Igor Dolinger schaffen es Geschichten zu erzählen, die Kinder mit und ohne Behinderung zusammen erleben. Dort stehen nicht die verschiedenen Auffälligkeiten im Vordergrund sondern das gemeinsame Erlebnis.

Das Buch

„Alle behindert!“

Horst Klein, Monika Osberghaus
Klett Kinderbuch Verlag
Leipzig 2019
40 Seiten, 14 Euro

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3 Antworten

  1. Danke Tanja!
    Die Landesarbeitsgemeinschaft Eltern für Inklusion hat dieses Buch auch rezensiert, das Ergebnis steht auf unserer Website. Wir -als Eltern von Söhnen und Töchtern mit und ohne Behinderung-haben es sogar noch stärker abgelehnt. Was für eine verpasste Chance, aufzuklären!

  2. Liebe Tanja, vielen Dank für diese kluge Rezension. Beim Lesen des Buches hat mich sofort ein vages Unwohlsein befallen, das ich nicht in Worte kleiden konnte. Du hast diesem Unwohlsein mit Deinem Text Ausdruck verliehen, ich habe dem nichts hinzuzufügen. LG Jule

  3. Ich warauch noch unentschlossen, wie ich das Buch finde und habe mich daher über diese Rezension sehr gefreut. Den Juli Völk Titel als positives Gegenbeispiel zu bringen finde ich aber problematisch. In dem Bilderbuch kommt ein Kind im Rollstuhl vor, allerdings lediglich auf den letzten drei Seiten. Es erlebt also mitnichten das Schulwegabenteuer mit den andern Kindern. Zudem landet es vor einer Schule, die keinen Zugang für den Rollstuhl, sondern lediglich eine Treppe hat, was jetzt auch nicht beosnders toll ist.

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